F. Eichmann: Krieg und Revolution in der Karibik

Cover
Titel
Krieg und Revolution in der Karibik. Die Kleinen Antillen, 1789–1815


Autor(en)
Eichmann, Flavio
Reihe
Pariser Historische Studien (112)
Erschienen
Berlin 2019: De Gruyter Oldenbourg
Anzahl Seiten
554 S.
von
Friedemann Pestel, Historisches Seminar, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas, Albert-Ludwig-Universität Freiburg

Mit seiner zweifach preisgekrönten Berner Dissertation zu den Revolutionskriegen auf den Kleinen Antillen leistet Flavio Eichmann einen gewichtigen wie überzeugenden Beitrag zu vier florierenden Forschungsfeldern: zur Geschichte des Age of Revolutions, das die Umwälzungen am Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr zuerst in Frankreich verortet; zur Atlantic History, die gerade die Karibik als Interaktionsraum mit kaum zu überschätzenden Eigenlogiken herausstellt; zur Geschichte des Krieges, der in der Karibik zwischen 1793 und 1815 zu quasi ununterbrochenen Mobilisierungen unterschiedlichster Akteure führte; und schliesslich zur Geschichte der Abschaffung und Wiedereinführung der kolonialen Sklaverei.

Neben seiner militärhistorischen Expertise macht Eichmanns sozialhistorische Kompetenz, mit der er die sozialen, politischen, nationalen und ethnischen Konfliktlinien der Revolutionskriege in der Karibik analysiert, dieses Buch zu einer historiografischen Bereicherung. Souverän arbeitet er die mannigfaltigen Konfliktlinien zwischen den Kleinen Antillen und der Metropole in ihren regionalen Verflechtungen, vor allem mit Saint-Domingue / Haiti, aber auch Frankreich, Grossbritannien, den USA und den kleineren Kolonialmächten, heraus und setzt einen wichtigen Akzent gegenüber dem auf Saint-Domingue fokussierten Haitian turn. Somit macht seine Studie eindrücklich den Forschungsbedarf zu den Kleinen Antillen deutlich, um zugleich diese Lücke, zumal in der deutschsprachigen Literatur, breit aus französischen und britischen Archiven schöpfend substanziell zu füllen. Treffsicher dekonstruiert Eichmann die Eigenlogiken der anglophonen, haitizentrierten Historiografie sowie die bisweilen zu nationaler Revolutionsemphase neigende französische Geschichtsschreibung.

Das Buch untergliedert sich in drei Teile: Der erste reicht vom Beginn der Revolution 1789 als Konflikt über politische Mitsprache und Freihandel über die Emanzipationsbestrebungen und Sklavenaufstände, zu denen es nach dem «Dammbruch» (S. 504) in Saint-Domingue auch auf den Kleinen Antillen kam, bis zum Ausbruch des Krieges und den ersten Offensiven des imperialen Rivalen Grossbritannien. Der zweite Teil setzt bei der Abschaffung der Sklaverei durch den Pariser Nationalkonvent 1794 an und folgt den kolonialen Konflikten bis zur Wiedereinführung der Sklaverei durch Napoleon Bonaparte 1802. Der dritte Teil widmet sich von der Wiederaufnahme des Krieges gegen Grossbritannien bis zur bourbonischen Restauration dem weitgehend vernachlässigten Feld der napoleonischen Kolonialpolitik. Die chronologische Darstellung in 14 Kapiteln, die regionale Schwerpunkte zu Guadeloupe, Martinique und den kleineren Inseln setzen, verlangt dem Leser angesichts der Kombination von Ereignisdichte, Akteursfülle, transatlantischer Mobilität und lokalen Besonderheiten einiges an Konzentration ab. Im Gegenzug wird die Lektüre mit einer Fülle von differenzierten Einsichten zum Kriegsverlauf, den divergierenden Loyalitäten von grands und petits blancs, gens de couleur, (ehemaligen) Sklaven, Emigranten und indigenen Kariben, zu Freihandel und Verschuldung, Arbeitskräftemangel und Zwangsarbeit, Seekrieg und Kaperei sowie Desertion, Krankheit und Tod belohnt. Auch zum franko-amerikanischen Quasi-War, zur Vorgeschichte der Schlacht von Trafalgar oder den kolonialen Netzwerken der Kaiserin Joséphine steuert Eichmann neue Erkenntnisse bei. In der Gesamtschau stellen diese Befunde die Kontingenz des langen Krieges ebenso heraus wie die permanente Überforderung des aus der französischen Metropole auf die Kleinen Antillen entsandten Militär- und Verwaltungspersonals. Lediglich die Rolle der exilierten Bourbonen gegenüber den mehrheitlich royalistisch orientierten Pflanzern kommt in diesem Zusammenhang etwas zu kurz.

Über dieses regionale Panorama hinaus sind es drei Neuinterpretationen, mit denen Eichmann etablierte Narrative zur Revolution in der Karibik, und hier vor allem zum Problemfeld der Sklaverei, hinterfragt. Es bleibt zu wünschen, dass diese Thesen auch über eine deutschsprachige Leserschaft hinaus neue Debatten anstossen mögen.

Erstens wendet sich Eichmann überzeugend gegen die gerade von der französischen Forschung immer wieder angeführten ideologischen Beweggründe für das Emanzipationsdekret des Pariser Nationalkonvents 1794. Statt aus dem Universalismus der Menschenrechte heraus interpretiert er die Abschaffung der Sklaverei als integralen Bestandteil der kolonialen Gewaltgeschichte: Als «zynisches Herrschaftsinstrument» (S. 505) sollte sie Frankreich aussenpolitische Vorteile auf dem europäischen Kriegsschauplatz verschaffen und zugleich die Ressourcen der konkurrierenden Briten und Spanier zur Verteidigung ihrer eigenen Kolonien in der Karibik binden. Weiterhin zielte die Emanzipation mit Blick auf die Kleinen Antillen weniger auf die Lebensumstände der afrokaribischen Bevölkerung als auf die Bestrafung der ‹konterrevolutionären› Eliten und die Zurückdrängung der britischen Invasoren mithilfe ‹befreiter› und dann sofort zwangsrekrutierter oder zur Zwangsarbeit verpflichteter Sklaven. Emanzipation und Terror gingen in der republikanischen Kolonialpolitik Hand in Hand; die Kleinen Antillen blieben auch ohne formale Sklaverei ein weitgehend rechtsloser Raum.

Zweitens verortet Eichmann – anknüpfend an jüngere revisionistische Arbeiten, aber auch hier mit eigenen Akzenten – die Wiedereinführung der Sklaverei auf den Kleinen Antillen durch Napoleon Bonaparte 1802 im Lichte des kurzfristigen Friedensschlusses mit Grossbritannien, der nach dem französischen Erwerb Louisianas der bonapartistischen Imperialpolitik ein koloniales Möglichkeitsfenster eröffnete. Die Entscheidung markierte aber ebenso ein innenpolitisches Versöhnungsangebot an die royalistische Pflanzeropposition in Paris. Angesichts der Herrschaftserosion der Kolonialmacht ging es somit um die Wiederherstellung metropolitaner Autorität und Kontrolle.

Drittens schaffte Napoleon während seiner kurzzeitigen Rückkehr aus dem Exil 1815 symbolträchtig den Sklavenhandel (nicht aber die Sklaverei) in den französischen Kolonien ab. Eichmann erklärt diese überraschende Wendung nicht mit innenpolitischen Zugeständnissen an liberale Kräfte oder als aussenpolitisches Signal an Grossbritannien, sondern wiederum aus der lokalen Situation der Karibik: Indem Napoleon das 1804 unabhängig gewordene Haiti aufgab, glaubte er, im Restimperium dadurch wieder Fuss fassen zu können, dass er die britischen und spanischen imperialen Konkurrenten unter Druck setzte, auf die Loyalität der farbigen Kolonialbewohner durch Statusverbesserungen setzte und zugleich die weissen Pflanzer nicht verprellte.

Insgesamt liefert der Band damit einen wichtigen kontextualisierenden Kommentar zur umfänglichen Haiti-Literatur. Eine explizitere Vergleichsperspektive, zumal im Fazit, hätte dies noch etwas stärker herausstellen können. Der Originalität dieses neuen Referenzwerks tut dies indes keinen Abbruch: Eichmanns Studie erhebt die Kleinen Antillen von einer vermeintlichen Peripherie zu einem der zentralen Schauplätze der revolutionären Karibik.

Zitierweise:
Pestel, Friedemann: Rezension zu: Eichmann, Flavio: Krieg und Revolution in der Karibik. Die Kleinen Antillen, 1789–1815, Berlin / Boston 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 479-480. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.